........ gelesen von mir
,,Von einer Spindel spinn ich dir, mit rotem Faden reicher Zier, ein schön' und weises Märchen hier. Den Faden greif: die Spindel singt. Ob ihr das Märchen wohl gelingt?"
Quelle:Doras Tochter erzählt

Die Hexe Waldille
In einem verzauberten Wald befindet sich eine Lichtung. Auf dieser Lichtung steht ein kleines, altes, gemütliches Holzhaus. Rauch steigt aus einem gemauerten Kamin empor. Im Inneren sitzt eine Frau in einem langen Kleid vor dem Feuer. Hier ist ihr Ort der Behaglichkeit und des Friedens. Neben ihr liegt ein Hund auf einem flauschigen Teppich, und auf ihrem Schoß schnurrt eine Katze. Doch so wohl sie sich hier auch fühlt, spürt sie, dass sie etwas finden muss, das sie erfüllt und belebt, etwas, das sie wieder zu sich selbst führt. Sie beschließt, eine Hexe zu werden. Eine Hexe im Wald. Eine Waldhexe. Und ein Name kommt ihr auch schon in den Sinn: Waldille. Zweifel regen sich in ihr. Aber sie will nicht mehr wie die meisten in der Gesellschaft sein, nicht mehr am Klatsch und Tratsch teilnehmen. Sie will weder in Worten noch in Taten jemandem Schaden zufügen. Sie will ihr Bestes geben, Ratsuchenden hilfreich zur Seite stehen, Kräuter sammeln, mit den Wesen der Bäume sprechen und den Mond mit Ritualen ehren. So sollte es sein, so soll es werden... Aber: Ist das wirklich das Richtige für sie? Und wo kann sie das lernen? In einer Hexenschule? Was soll sie tun? Sie tritt aus ihrem Haus. Eine leichte Brise streicht ihr durchs Haar. Die Sonne wärmt ihren Körper. Das Murmeln des Baches dringt an ihre Ohren, und sie spürt die Erde unter ihren Füßen. Friedlich weidet ein Hirsch auf der Lichtung. Von einem nahen Baum flattert ein Eichelhäher zu ihr herüber und setzt sich auf das Geländer der Veranda. Er neigt seinen Kopf und schaut ihr eindringlich in die Augen. Dann spricht er: ,,Ich weiß, was dich bewegt. Höre, was ich dir zu sagen habe: Wenn du eine Waldhexe sein möchtest, dann sei eine. Gib dir den Namen, den du möchtest, geh in den Wald und lebe deine Magie. Das kann dir keine Schule der Welt beibringen. Ein Ritual, das du selbst ersinnst, das sich für dich gut anfühlt, ist wirkungsvoller und schöner als alles, was dir eine sogenannte Schule aufoktroyieren könnte. Die wichtigste Einstellung für eine Hexe – für jeden magisch lebenden Menschen – ist, sich niemals etwas vorschreiben zu lassen. Hinterfrage alles und prüfe, ob es für dich passt." Nun tritt der Hirsch hinzu. ,,Erforsche dich selbst in der anderen Welt. Und gemeinsam mit mir als Verbündetem werden wir das Wirken dieser Welt erkunden. So lernst du die Kräfte und Gesetze der Natur – ein Leben lang. Nach und nach wirst du immer klarer erkennen, was du damit bewirken kannst und was nicht." Er blickt sie mit ruhigen, wissenden Augen an. ,,Du spürst den Rhythmus der Natur und erkennst darin das Werden des Frühlings, das Erblühen des Sommers, das Vergehen des Herbstes und das Sterben des Winters. Du siehst den ewigen Wechsel von Tag und Nacht, von Licht und Dunkelheit. Eigene Entscheidungen zu treffen, wird dir mit der Zeit immer leichter fallen. Und nun kehre zurück in deine Welt, denn hier kannst du nicht für immer bleiben, aber jederzeit zurückkehren." In ihrer realen Welt ist es für die Hexe nicht leicht. Die äußeren Einflüsse wirken oft stark auf sie ein. Immer wieder begegnen ihr Herausforderungen, Hindernisse und innere Konflikte. Sie weiß, wie sie sein will – ehrlich, besonnen, kraftvoll, gelassen. Doch es gibt auch Momente, in denen sie in alte Muster zurückfällt und ihre Schatten sich zeigen. Am Morgen passierte ihr bei der Arbeit ein Fehler. Für einige Minuten sah es so aus, als hätte dieser fatale Folgen. Panik und Schuldgefühle überschwemmten sie, quälten sie. Doch zum Glück stellte sich heraus, dass alles in Ordnung war – es war nur ein Versehen ohne Folgen. Aber sie machte sich Sorgen: Warum nur fühlte sie sich immer gleich schuldig? Später am Tag, während sie in ihrem Kräutergarten arbeitete, kam ihre Schwiegermutter, mäkelte herum und befahl ihr in einem garstigen Ton, den Hof zu kehren. Ein Streit entbrannte. Zuerst war sie wütend, doch dann hielt sie inne und besann sich: ,,Schluss jetzt damit. Ich will eine Hexe sein. Und wenn ich frei sein will, wenn ich fliegen will, dann kann ich das nicht mit so viel Ballast. Nicht mit so viel Wut und Zorn, so vielen Schuldgefühlen im Bauch." Sie atmete tief durch. ,,Ich kehre den Besen – oder besser gesagt, den Spieß – um. Ich frage mich: Wofür kann ich ihr dankbar sein, und was kann ich für mich tun und gegen die Schuld und Angst?" Am Abend zieht sie sich zurück, setzt ihre Kopfhörer auf, schaltet die Trommelmusik an und reist so in die Anderswelt... Hier sitzt sie auf einem Baumstumpf auf der Lichtung. Der Hirsch kommt langsam aus dem Wald zu ihr. In seinem Geweih sitzt der Eichelhäher. Als die beiden bei ihr angekommen sind, begrüßen sie sich, und dann erzählt sie ihnen die Geschichte. Anschließend erklärt sie: ,,Ich bin dankbar, dass sie mich so deutlich auf meine Schuldgefühle hinweist, die ich schon seit meiner Kindheit mit mir herumschleppe... Und ich stelle mir und euch die Frage: Welche neue Erkenntnis könnte sich daraus entwickeln?" Der Hirsch antwortet bedächtig: ,,Ich sage es dir: Du hast das Recht, deine Bedürfnisse zu haben – ohne dich schuldig zu fühlen. Du brauchst dich nicht klein zu machen. Denk daran: • Wenn du kritisiert oder nicht anerkannt wirst, dann heißt das nicht, dass du ,falsch' bist – sondern nur, dass derjenige seine eigenen Themen hat. • Du darfst gut für dich sorgen. • Du bist gut so, wie du bist. • Du musst das nicht beweisen. Und jedes Mal, wenn die alten Schuldgefühle wiederkommen, sage dir: ,Das bin nicht ich. Das ist etwas, das ich gelernt habe – und es darf jetzt gehen.'" Tränen laufen ihr nach diesen Worten über die Wange. Sie fühlt sich erleichtert und erkennt, dass selbst schwierige Menschen oder Situationen sie wachsen lassen können – und das ist wahre innere Stärke. Nun meldet sich der Eichelhäher zu Wort: ,,Du nutzt die Erfahrung, um dich selbst wohlwollend, liebend und erlaubend zu betrachten und dadurch deine alten Wunden zu heilen. Du siehst: Jede Herausforderung kann dich entweder schwächen oder stärken. Wie ein Fluss seinen Weg durch unwegsames Gelände findet, lernst auch du auf diese Art und Weise, kluge Entscheidungen für dich zu treffen." Der Eichelhäher überreicht ihr ein Amulett, das wie aus dem Nichts im Geweih des Hirsches auftaucht. Es ist ein Geschenk von ihnen für sie. Bevor sie sich bedanken kann, knacken Äste entzwei, und Blätter wirbeln auf. Aus dem Dickicht des Waldes trampelt eine struppige, schwarze Ziege heran. Schon seit einiger Zeit lungerte sie dort herum und beobachtete die drei. Es gefiel ihr überhaupt nicht, was sie sah und hörte. Wutschnaubend und mit donnernden Hufen rennt die Ziege über die Lichtung. Erschrocken fliegt der Eichelhäher davon. Auch der Hirsch tritt den Rückzug an. ,,Ha!", triumphiert das schwarze, zerlumpte Tier. ,,Da laufen sie davon, deine sogenannten Freunde und Verbündeten. Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass du die Hexerei in deiner realen Welt umsetzen kannst. Das ist pure Utopie. Was bildest du dir überhaupt ein? Waldhexe? So etwas kann man gar nicht sein. Waldille? So ein Unfug... Das ist alles Blödsinn, was du dir da ausdenkst – dummes Zeug! Lieber solltest du arbeiten und deine Pflichten erfüllen, wie es sich für eine gefügige Frau gehört." Wieder liefen ihr Tränen über die Wange, diesmal vor lauter Bestürzung. War das wirklich wahr? Bildete sie sich wirklich zu viel ein? War es wirklich nicht möglich, so zu leben, wie es ihr gefiel? Sie griff mit der einen Hand nach dem Amulett und presste die andere Hand an ihr Herz. Sie besann sich, wurde ganz ruhig und weich in ihrem Inneren. Sie ließ alle Gefühle durch sich hindurchfließen – all das, was jetzt auftauchte. Sie spürte ihren Atem, atmete langsam, ruhig und tief in den Bauch hinein. Dann sprach sie: ,,Ich atme Gelassenheit ein und die Sorgen aus. Ich atme inneren Frieden ein und lasse die Angst gehen. Ich fühle, wie meine Lebensenergie mich durchströmt, durch alle meine Zellen fließt, sie beseelt und belebt. Meine Gedanken und Gefühle fließen durch mich hindurch. Ich bin in Sicherheit. Ich darf Fehler machen. Ich bin gut, so wie ich bin. Ich spüre die Erde unter meinen Füßen und die Verbundenheit mit allem, was ist – was jetzt ist – und ich weiß, dass alles gut ist, so wie es ist." Als sie die Augen wieder öffnete, saß sie in ihrem Sessel zu Hause. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, sie fühlte sich frei und leicht. Ihre Hand umfasste noch immer das Amulett. ,,Nun habe ich meine erste magische Formel ersonnen", flüsterte sie leise. ,,Ich kann es schaffen, eine Hexe zu sein. Wenn ich meinen Weg mutig weitergehe, werde ich auch anderen helfen können." Von da an begann sie, die Magie in ihren Alltag zu tragen. Sie sammelte Kräuter und fand eine Gemeinschaft, mit der sie gemeinsam wundervolle Vollmond-Rituale zelebrierte. Auch andere Hexen lernte sie kennen. So oft es ihre Zeit erlaubte, wanderte sie in den nahen Wald, um dort zur Ruhe zu kommen und ihre Magie zu erforschen. Von Woche zu Woche fühlte sie sich mutiger und kraftvoller und begann, sich immer mehr selbst zu vertrauen. Immer wieder reist sie in die Anderswelt und kehrt in ihr kleines Haus auf der Lichtung zurück. Dort trifft sie den Hirsch, und manchmal kommt auch der Eichelhäher vorbei. Dann sitzt sie am Feuer, mit dem Hund zu ihren Füßen und der Katze auf dem Schoß. Ihre Hand ruht auf dem Amulett. ,,Ich spüre die Magie in mir. Ich höre das Wispern des Waldes, die Botschaften der Tiere. Sie begleiten meine Reise durch die Welten." Ende Und wenn ihr noch mehr Geschichten hören wollt, dann wartet, bis die nächste Spindel aufgenommen und der nächste Faden ausgesucht ist.